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Ein Trödelmarkt mit ganz besonderem Charme, ein Stück London und originelle Stromkästen – Unterwegs in Neuss

Während ich mich auf das alte, plüschige Sofa plumpsen lasse, schweift mein Blick durch den hohen Raum, der einem Museum gleicht. Von rechts grinst mich ein altes Karusselpferd an, hinten in der Ecke steht eine dunkle Statue, die fast bis an die Decke reicht und zu meiner Linken lädt ein altes Klavier mit aufgeschlagenem Notenheft zum Spielen ein. “Das hat schon was, oder?” Oh ja, da muss ich Janett zustimmen, die sich mit zwei Papptellern bewaffnet ebenfalls auf eines der antiken Sofas plumpsen lässt. Wir verputzen jeder eine Waffel, deren herrlicher Duft den ganzen Raum erfüllt, und Janett erzählt mir vom Gare du Neuss, in dem wir gerade sitzen.

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Wo einst Güterzüge entladen wurden, entstand 2010 ein ganz besonderes Konzept: Der Gare du Neuss. Seit vier Jahren findet in den historischen Hallen, denen schon der Abriss drohte, jeden Samstag ein Antik- und Trödelmarkt statt. Die wunderschönen Hallen mit ihren Steinwänden und Holzbalken sind aber auch eine perfekte Location für Events jeder Art. Firmenfeiern, private Feste, Bankette – alles ist möglich im alten Güterbahnhof von Neuss.

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Heute ist Samstag und so streifen Janett und ich durch die Gänge, vorbei an antiken Möbeln, mit viel Liebe dekoriertem Trödel und Kisten voller Platten. Wir entdecken auch einen Stand mit Zuckerware und ich bedaure es sehr, dass solche kleinen Läden in den Städten aussterben.

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“Hier finden auch regelmäßig Mädelsflohmärkte statt. Dann wird natürlich größtenteils Fashion angeboten. Und es wird Musik gespielt.”, klärt mich Janett auf, während sie in bunten Bändern ein passendes für ihr nächstes Nähprojekt sucht. Hatte nicht noch vor kurzem jemand behauptet, Neuss sei langweilig? Der Gare du Neuss hat mich auf jeden Fall schon mal vom Gegenteil überzeugt!

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Noch ist es trocken, also nutzen wir die Wetterlage aus und beginnen unseren Rundgang durch Neuss. “Wir nennen die Stadt auch gerne den älteren Bruder von Düsseldorf, weil Neuss schon sehr alt ist, wahrscheinlich eine der ältesten Städte Deutschlands. Darüber gibt es unterschiedliche Informationen, aber fest steht, dass die Römer schon hier gelebt haben!” erzählt mir Janett, während wir durch die Einkaufsstraße Richtung Münsterplatz spazieren. Hier ist leider nichts vom hohen Alter der Stadt zu sehen, denn wie in so manch anderer deutschen Stadt ist in Neuss sehr viel zerbombt worden. Schön ist anders, aber immerhin fährt auf dieser Strecke am Wochenende keine Straßenbahn, so dass die Neusser in aller Ruhe shoppen gehen können… Ein kleines bisschen Nostalgie begegnet uns dann doch noch: zum einen in Form eines alten Straßenbahnwagens, auf dem Neuss noch mit “ß” geschrieben steht. Außerdem steht ganz einsam zwischen all den 50er-Jahre Bauten eine historische Häuserfassade, die eines der ältesten Restaurants von Neuss beherbergt.

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Beim Betreten des Quirinusmünsters vernehme ich Streichmusik und tatsächlich sitzt im Gang eine junge Frau, die einige Stücke auf ihrem Cello zum Besten gibt. Für das katholische Rheinland ist das Münster ungewöhnlich schlicht, nur der goldene Quirinusschrein im Chor hebt sich von der Schlichtheit des Kircheninneren ab. Während in ihm die Gebeine aufbewahrt werden, wacht Quirinus – der Schutzheilige von Neuss – noch immer als Statue hoch oben auf der Kuppel des Münsters über seine Stadt.

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“Das ist der Blutturm. Hier soll unter anderem die letzte Frau gefangen gehalten worden sein, die in Neuss geköpft wurde”, während Janett über die grausame Vergangenheit dieses Ortes berichtet, wandert mein Blick nach oben bis zum Ende des Turms. Er ist Teil der mittelalterlichen Stadtbefestigung und wurde damals als Gefängnis und Folterkammer genutzt. Heute können hier Kindergeburtstage gefeiert werden… Wir spazieren ein Stück durch den Park, der aus der ehemaligen Wallanlage entstanden ist. Heute vielmehr ein Ort der Stille und des Friedens. Überall blüht es und außer dem Singen der Vögel ist nicht viel zu hören. Zwischen die gewohnten Vogelstimmen mischt sich eine Art Kreischen. Über uns turnt ein indischer Halsbandsittich durch die Äste. Er ist einer von ca. 8.500, die seit den 60ern im Rheinland heimisch sind.

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Auf unserem Rundgang kommen wir immer wieder an bunt bemalten Versorgungskästen vorbei. Seit 2011 führt die Bürgerstiftung Neuss (BüNe) regelmäßig die Aktion Neusser Farbkästen durch. Zurzeit verteilen sich ca. 50 bunt bemalte Kästen über die Neusser Innenstadt – und keiner gleicht dem anderen.

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In der Volkshochschule wartet eine weitere Besonderheit auf uns: mitten im Erdgeschoss befindet sich eine Ausgrabungsstätte. “Der Bau der Volkshochschule hat sich ewig hingezogen, weil beim Buddeln römische Fassaden gefunden worden sind”, klärt mich Janett auf. Also hat man das Gebäude einfach drumherum gebaut und Besuchern die Möglichkeit gegeben, den archäologischen Fund zu bewundern – kostenlos. In römischen Zeiten hieß Neuss übrigens Novaesium.

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“Früher muss es noch viel schlimmer gewesen sein, da hat man Neuss wegen des Gestanks besser gemieden!” ist Janetts Reaktion auf mein Nasenrümpfen. Wir sind mittlerweile im Hafen angelangt und schwerer Ölgeruch liegt in der Luft. Verpesteten früher Thomy und eine Kerzenfabrik die Luft, sind es heute vor allem die Ölmühlen. Dank moderner Techniken ist es aber nur noch halb so schlimm und empfindliche Nasen werden nur noch am Hafen auf die Probe gestellt. Auch wir verlassen den Ort schnell wieder, was allerdings auch am beginnenden Regen liegt. Ein letztes Ass hat Janett aber noch im Ärmel und das befindet sich gleich auf der anderen Straßenseite.

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“Mensch, hier muss doch irgendwo ein Eingang sein…” Doch der Weg windet sich weiter an einem Maschendrahtzaun entlang, der kein Ende zu nehmen scheint. Zweimal sind wir an einem Loch im Zaun mit Trampelpfad vorbei gekommen und nach ein paar weiteren Metern beschließen wir, eines dieser Löcher zu nutzen. Vorsichtig tasten wir uns den kleinen Abhang hinunter, eine Hand immer an einem der vielen kleinen Bäume. Dieser kurze Weg hat uns direkt nach London geführt. Könnte man zumindest meinen, denn wir stehen dem Globe gegenüber. “Hier findet auch regelmäßig das Shakespeare Festival statt!” Janett schwärmt regelrecht von den Aufführungen in englischer, französischer und deutscher Sprache. Außen sieht das Theater dem englischen Original schon sehr ähnlich und Janett versichert mir, dass es innen ebenfalls dem großen Vorbild nachempfunden ist: die Zuschauer sitzen auf drei Etagen, die Schauspieler spielen auf einer nach drei Seiten geöffneten Bühne. Das Programmheft für das diesjährige Shakespeare Festival wandert in der Tourist Info gleich mal in meine Tasche, vielleicht klappt es zeitlich ja…

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Neuss ist so einiges, aber auf keinen Fall langweilig! Vielen Dank an Janett für die unterhaltsame “Eroberung” der Stadt!

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13 Kommentare

  1. Na da hast Du meine Heimatstadt aber schön portraitiert. Schade, daß ich nicht dabei sein konnte. Ich hätte Dir als “Ur-Neusserin” bestimmt noch das ein oder andere Eckchen zeigen können. Naja, Ur ist übertrieben, aber immerhin habe ich dort von 7 bis 24 gelebt. Früher war Neuss echt nicht besonders schön und ich habe die Stadt nach meinem Umzug nach Köln lange gemieden. Mittlerweile fahre ich wieder gerne hin. Es hat sich viel getan -> Gare du Neuss rockt. :) Und ja, Neuss ist neben Köln und Trier die älteste Stadt Deutschlands. GlG, Nadine

    • Jessi sagt

      Ja, wirklich schade, dass du nicht mitkommen konntest!
      Mir hat es wirklich Spaß gemacht, durch Neuss zu ziehen und die Besonderheiten dieser Stadt zu entdecken.

      Liebe Grüße
      Jessi

  2. Danke für den schönen, lebendigen Bericht. Da liegt Neuss so nah und Deine Erlebnisse kannte ich selbst noch gar nicht. Werde ich nachholen ;-)
    Liebe Grüße aus Krefeld,
    Tanja

    • Jessi sagt

      Sehr gerne! Danke für das Lob!
      Vielleicht hast du ja mal Lust, mir Krefeld zu zeigen?

      Liebe Grüße
      Jessi

  3. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, mit dir Neuss zu erobern! Und irgendwie entdeckt man auch immer noch selbst Sachen, so wie diese tolle Brücke mit den Schlössern!.

    Immer wieder gerne :D

  4. Keine schlechte Idee, mal einfach deutsche Städte zusammen zu erobern. Ich bin mir sicher, dass es auch in Bayern einige Städte gibt, die sicher eine ordentliche Story zu erzählen haben.
    Zu dem “Gare de Neuss” hätte ich aber mal noch eine Frage: Wer verkauft denn da eigentlich? Bei den Flohmärkten, die ich so kenne, wird meistens alles möglich unabhängig von seinem “antiken Status” verkauft. Gibt es da eine Behörde, die ganz klar sagt, was-genau bzw. mimum-wie-alt man verkaufen darf?

    LG Phil

    • Jessi sagt

      Also, laut Internetseite verkaufen da sowohl Privatleute als auch Profis und den Anschein machte es auf mich auch. Es darf – soweit ich weiß – alles verkauft werden. Unter dem Trödel waren durchaus auch Dinge, die mehr der Dekoration als der Sammlung wertvoller Gegenstände dienen. Aber ich habe keinen “Ramsch” gesehen, wie man es oft von Flohmärkten kennt.

      Ja, in Bayern gibt es sicherlich Städte, die mal erkundet werden sollten…

      Liebe Grüße
      Jessi

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